Der zweite Bildungsweg

Es war einmal ein junger und aufgeschlossener Kerl namens Egon.

Egon war äußerst wissbegierig und voller Lerneifer. Er interessierte sich vor allem für  die
Computertechnologie und alles was sich mit ihr verbündet hatte. Als das Zeitalter des Internets

hereinbrach, konnte ihn nichts mehr bremsen! Sein schwerverdientes Geld als Arbeiter investierte 

er fast täglich in Fachzeitschriften und Bücher, nichts blieb unentdeckt.

Am allerliebsten zog er sich bei seinem "täglichen Geschäft" aufs's stille Örtchen zurück. Dort
stapelten sich bereits hunderte von Fachzeitschriften. Wenn Egon dann gemütlich auf dem Lokus

saß, verging die Zeit oft wie im Fluge. Stunde um Stunde verbrachte er abends dort. Er merkte

nicht einmal, daß sein wohlgeformtes Hinterteil bereits mit einem kreisrunden Abdruck versehen war,

welcher zusehends an Tiefe zunahm.

Innerhalb weniger Monate hatte Egon einen enormen Wissensstand erreicht. In seinen übrigen
Räumlichkeiten war inzwischen alles verkabelt und auf dem neuesten technischen Stand.

Nur, bei all' der Zeit, die Egon auf dem Lokus verbrachte, um seine Fachliteratur zu verschlingen, war

kaum noch welche übrig, um diese vor seinem über alles geliebten Computer zu verbringen. So stellte

er Überlegungen an, wie er hier Abhilfe schaffen konnte. Aber natürlich! Das war doch ganz einfach!

Er verlagerte sämtliche technische Errungenschaften um seinen Lokus herum - schwups, das Problem

war gelöst! Nach ein paar Tagen war selbst der Internet-Anschluß verlegt und es konnte losgehen.

Während er ganz nebenbei sein "Geschäft verrichtete", jagte er durchs weltweite Netz ... Nichts blieb

ihm verborgen! Er belegte auf dem selben Wege Fernkurse und absolvierte diese mit Bravour!

Schon bald hatte Egon sich einen Namen gemacht. Er gestaltete Homepages nach Maß innerhalb
kürzester Zeit. Seinen alten Beruf hatte er längst aufgegeben und er firmierte selbständig unter dem

Logo "E.O.L"! Er gab mittels elektronischer Post Auskunft über alle Computer-Probleme dieser Welt,

es nahm kein Ende. Ja, zum Schluß orderte er bereits seine Pizza und sämtliche Lebensmittel via Internet!

Geld spielte schon längst keine Rolle mehr.

Es kam der Tag, an dem er wie üblich sein "Geschäft verrichtete". Egon wunderte sich plötzlich, was 
ihm denn da zwischen die Finger geriet, als er sein Hinterteil abzuwischen versuchte!? Haare ... Haare???

Graue, lange Haare??? Der Schreck fuhr Egon durch alle Glieder! Schnell, ein Spiegel! Doch wo war

dieser??? Dort drüben an der Wand, hinter all' den elektronischen Gerätschaften und Kabeln! In seinem

Schock riß er alles aus der Wand heraus, stieß alles zur Seite, was sich ihm in den Weg stellte und ihn 

daran hinderte, sein Spiegelbild zu betrachten.

Und ein weiterer Schock folgte sogleich ... Seine Augen blickten ihn aus tiefen, ränderummalten Höhlen
an, sein Haar grau, dünn und lang, umrandetete sein völlig ausrdrucksloses, fast totes Gesicht. Es folgte

eine unaufhaltsame Einsamkeit, die er bis dahin nie bemerkt hatte. Ja, sie überflutete ihn fast und er kämpfte

darin, um nicht in ihr zu ertrinken. Ein Kampf, den er im letzten Atemzug völlig vorbehaltlos aufnahm und 

in dem die Erkenntnis wuchs. Die Erkenntnis darüber, daß er nichts, aber auch nichts außer Geld und

Ansehen besaß. Doch welches Ansehen eigentlich? Nie hatte ihn jemand je unter dem Firmennamen "E.O.L"

- nämlich "Egon-Online-Lokus" zu Gesicht bekommen! Die einzige Verbindung zur Außenwelt war lediglich

die Datenleitung gewesen ... Ein Kabel, welches durch irgendeine Wand kroch und dann nicht weiter 

sichtbar war - so wie er.

Er erinnerte sich noch vage daran, daß ihn seine Frau längst verlassen hatte und suchte verzweifelt nach
dem Abschiedsbrief, welchen sie ihm von ihrer Dienststelle aus per E-Mail zugesandt hatte. In welcher

Datei hatte er ihn nur gespeichert, um sich diesem später zu widmen? Später ... Nun war es zu spät. Er

klickte ein letztes Mal mit seiner Computermaus auf eine der Dateien und fand ihren Abschiedsbrief, in

welchem folgendes stand:

 

Dein Herz ist eine graue Festplatte geworden, Dein Hirn ein wahnsinniger Rechner, welches
nicht mehr zu erkennen vermag, was im Abstand von zwei Metern Deines Toilettenrandes
herum passiert. Was nicht piept, klickt und flackert, nimmst Du nicht mehr wahr.

Bei mir piept es wohl auch, daß ich dies so lange ertragen habe. Nun hat es Klick gemacht
und ich nehme Abschied. Mein Herz wird jedoch weiter flackern ...

                                        Deine lebende Maus

P.S.: Vergesse nicht, zum Frisör zu gehen! Und Dein Toilettenpapier mußt Du Dir in
         Zukunft selbst besorgen!
 

© by Alex We Hillgemann 1999
 

 
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